30 Oktober 2006

IV. Bewertung der Arbeitshypothesen

Im folgenden möchte ich die der Analyse vorangegangenen Arbeitshypothesen in Verbindung mit den Ergebnissen diskutieren.

Die hohe ethnische Fraktionalisierung der libanesischen Gesellschaft ist das Ergebnis der historischen Wanderungsbewegungen der einzelnen Gruppen in das Gebiet des heutigen Libanons.
Die einzelnen konfessionellen Gruppen durchlebten dort eine über die Jahrhunderte hinweggehende eigenständige soziale und kulturelle Entwicklung, die zu separaten Normen- und Wertesystemen unter den verschiedenen Gruppen führte.
Der Einfluß der Großmächte führte zum Verlust der relativen Autonomie der einzelnen Gruppen und brachte die konfessionellen Gemeinschaften in das Spannungsverhältnis externer politischer Interessen. Mit der Entstehung der Republik Libanon bildete sich eine Gesellschaft, die sich aus ethnischen Minoritäten zusammensetzte und für den "Nation-building"-Prozeß notwendige Loyalitätsstrukturen gegenüber dem politischen System vermissen ließ.
Auch das nach der Unabhängigkeit von Frankreich beibehaltene und durch den "National Pact" modifizierte System einer konfessionellen Proporzdemokratie (Consociationalism), konnte die profunde Segregation der libanesischen Gesellschaft nicht überwinden.
Die nach dem Westen hin orientierten und von Frankreich protegierten christlichen Gruppen behielten auch nach der Unabhängigkeit ihre dominante politische Stellung innerhalb der libanesischen Gesellschaft bei und verweigerten jegliche Reformen einer politischen Veränderung der bestehenden Machtverhältnisse.
Das wachsende Bedürfnis der vorwiegend muslimischen Kräfte nach größerer politischer Beteiligung, scheiterte an der Immobilität des politischen Systems. Die Folge davon war die Entstehung von "Relativer Deprivation" auf Seiten der zumeist muslimischen Kräfte, zugleich aber auch auf Seiten der christlichen Gruppen, die in dem Streben der Muslime nach politischen Reformen ihre eigene Machtposition gefährdet sahen. Diese Form der Deprivation wurde gleichfalls von der Elite als auch von der Masse erlebt. Daraus ergab sich eine verstärkte Kooperation zwischen den Mitgliedern der jeweiligen konfessionellen Gruppen und ihren politischen Führer.
Die vorhandene regionale Konzentration der einzelnen ethnisch-konfessionellen Gruppen förderte dabei die intersegmentale Elite-Masse-Kooperation .
Ein durch die unausgewogene Verteilung der ökonomischen Resourcen mögliche Klassenkonflikt auch innerhalb der religiösen Gruppen, konnte durch die verstärkte Rückbesinnung auf die konfessionelle Identität verhindert werden. Vielmehr wurde die ökonomische Benachteiligung der Mehrzahl der libanesischen Bevölkerung als Teilbereich des politischen Konfliktverhältnisses zwischen den hauptsächlich muslimischen und christlichen Gruppen im Libanon gewertet.
Jede der für den Konflikt bedeutende ethnisch-konfessionelle Gemeinschaft verfügte über entsprechende politische Organisationen, die die jeweilige Gemeinschaft politisch und militärisch repräsentierte. Die Loyalität und die Zwangskontrolle innerhalb dieser Organisationen erreichte einen hohen Grad und war unter den Gruppen annähernd ausgeglichen, so daß keine der militärischen Organisationen sich im Verlaufe des Konfliktes entscheidend durchsetzen konnte. Der Mangel an eigenen Resourcen wurde dabei zumeist durch die Inanspruchnahme auswärtiger Unterstützung ausgeglichen.
Der Einfluß der externen Faktoren auf den Konflikt im Libanon war sowohl für den Beginn der gewalttätigen Eskalation als auch für den weiteren Verlauf von erheblicher Bedeutung. Die vorhandene Fragilität des politischen Systems im Libanon und die daraus resultierende Schwäche des Staatssystems ließen deshalb den Libanon zum "Spielfeld" palästinensischer, syrischer und israelischer Interessen werden.
Einen erheblichen Einfluß erreichten die externen Mächte dadurch, daß sie bestimmte Konfliktparteien unterstützten und andererseits dadurch, daß sie direkt im Libanon intervenierten.
Waren die palästinensischen Organisationen hauptsächlich am Beginn der Konflikteskalation beteiligt, so trugen Syrien und Israel wesentlich zur Fortdauer des Konfliktes bei. Immerwieder wird deswegen bis heute der Abzug aller ausländischen Mächte als Voraussetzung für eine Beilegung des Konfliktes gefordert.


Schlußbemerkungen

Diese Studie stellte den Versuch dar, all jene Einflußfaktoren zu analysieren, die maßgeblich an der Entstehung und an dem weiteren Verlauf des Konfliktes im Libanon beteiligt waren.
Es wurde deutlich, daß es sich dabei nicht um einen Konflikt handelt, dessen Ursachen in dem Vorhandensein verschiedener religiöser Weltbilder zu suchen sind. Wenngleich aber die ethnisch-konfessionelle Identität eine bedeutende Stellung innerhalb der libanesischen Gesellschaft einnimmt.
Die Existenz verschiedener ethnisch-konfessioneller Gruppen im Libanon und die damit verbundene hohe politische Fraktionalisierung stellten besondere Anforderungen an das politische System, den Forderungen nach politischer Partizipation aller Gruppen gerecht zu werden. Das libanesische Modell einer Proporzdemokratie sollte die Möglichkeit darstellen, allen Gruppen Mitbestimmungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten am politischen Entscheidungsprozeß einzuräumen. In der Praxis allerdings wurden die Bedingungen für das Gelingen eines "consociational systems" nur inadäquat erfüllt. Statt einer nach der demographischen Stärke der jeweiligen konfessionellen Gruppen ausgerichteten proporzionalen Verteilung der politischen Macht, wurde insbes. den christlichen Gruppen eine dominante politische Position eingeräumt, die sich ebenfalls in der libanesischen Ökonomie widerspiegelte. Das zwar formal bestehende Modell des "Consociationalism" entpuppte sich so als starres System christlicher Vorherrschaft. Für die größtenteils muslimischen Massen bestanden deshalb kaum Chancen auf politischem Wege eine Verbesserung ihrer Lebensqualität bewirken zu können. Die Verweigerung von politischen Reformen durch die christlichen Gruppen einerseits und die steigenden Partizipationsforderungen auf seiten der Muslime andererseits führte schließlich zu einem Antagonismus, der die libanesische Demokratie zum scheitern brachte und massive politische Gewalt hervorrief, an deren Entstehung exogene Einflußfaktoren wesentlich beteiligt waren.
Die Wirkungen dieser leidvollen Entwicklung im Libanon gehen weit über den Libanon hinaus da die meisten Nationen des Nahen Ostens mit den Problemen einer hohen ethnisch-konfessionellen Fragmentierung zu kämpfen haben. Das libanesische Demokratiemodell hätte dabei als Vorbild für die Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz ethnischen Minoritäten innerhalb eines Staatsgefüges dienen können. Statt dessen aber ist davon auszugehen, daß das libanesische Beispiel eine Signalwirkung für viele Regime des Nahen Ostens besitzt, auf steigende Beteiligungsforderungen ethnisch-konfessioneller Minoritäten mit einer Ausweitung des staatlichen Repressionsapparates zu reagieren.

Die Entwicklung im Libanon selbst ist weiterhin offen. Selbst wenn es in naher Zukunft möglich sein sollte, für einen Abzug aller ausländischen Kräfte zu sorgen, so bleibt doch die Frage offen ob der Libanon selbst in der Lage sein wird, die Intransigenz unter den verschiedenen Minoritäten zu überwinden und eine nationale Aussöhnung erreichen zu können. Weitreichende politische Reformen wären dafür allerdings notwendig. Dies ist um so problematischer geworden seit der arabische Fundamentalismus stetig an Einfluß innerhalb der islamischen Welt dazugewinnt.
Doch selbst dann, wenn es zu einer nationalen Aussöhnung kommen sollte, bleibt zu fragen, wie der Libanon mit der desolaten wirtschaftlichen Situation des Landes fertig werden kann, zumal der Libanon seine ehemals bedeutende Stellung als Handelszentrum und Umschlagplatz für den Warenverkehr zwischen Orient und Okzident an Länder wie z.B. Kuwait verloren hat.
Ein weiteres Problem liegt darin begründet jene Generation in ein normales Leben zurückzuführen, die eigentlich nur Kampf und Gewalt kennt. Diese Generation hat die friedliche Koexistenz aller Gemeinschaften im Libanon nie erlebt.